Gemischte Gefühle 1

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Angesichts der Komplexität der meisten gesellschaftlichen, politischen und ökologischen Phänomene ist eine Eindeutigkeit der Meinung schwierig. Im Gegenteil sind Menschen, die so ganz genau wissen, was richtig und falsch ist, die womöglich die WAHRHEIT besitzen, mir suspekt. Ein wenig beneide ich die auch. Bei mir herrscht oft so ein HinundHer.

Gestern musste ich wegen höllischer Schmerzen zum Arzt, ich brauchte ein Taxi, und zwar schnell. Bei der Fahrt quer durch die Stadt, kam im Radio die Nachricht, die „Letzte Generation“ habe mal wieder irgendeinen Autoabschnitt durch Festkleben blockiert. Mir lief der Angstschweiß, saßen wir etwa gleich im Stau fest, das schien mir kaum aushaltbar. Gleichmütig meinte der Fahrer, er fahre eine Alternativroute, alles kein Problem.

Das bleibt also von der „Letzten Generation“, eine alltägliche Störung, die nach kurzer Zeit überwunden, die Schmiere an einem Gebäude, an einem Kunstwerk abgewischt, hinterher alles wie immer, am nächsten Tag oder in nur einer Stunde geht der Alltag weiter. Klima? Was für ein Klima? Interessiert nicht.

Und da sind sie wieder diese gemischten Gefühle. Klar, ich verstehe die Sorgen der „Letzten Generation“, es sind durchaus meine Sorgen. Aber was muten sie den Menschen zu, Störungen, Belästigungen, Arbeitserschwernisse, Konflikte. In meinem Fall Verlängerung der Schmerzen, in anderen Fällen das Ausfallen des Termins im Krankenhaus usw usw. Und dann kommt das Totschlagargument, ist doch alles nichts angesichts der Klimakatastrophe. Macht doch nichts, wenn ein paar Menschen belästigt werden, vielleicht länger Schmerzen haben. Im Bewusstsein einer Mission für das Richtige und Wahre trampelt man im Leben anderer herum. Im Grunde werden „die Anderen“ zu einer unpersönlichen, amorphen Masse, die die Aktionen einfach aushält. Muss sich irgendwie gut anfühlen, ich bin auf der richtigen Seite, ich bin der Märtyrer, ich klopfe mir selber auf die Schulter, toller Einsatz, super Erfolg, zehntausend Autofahrer blockiert. Ach richtig, das Klima, darum geht es ja.

Ehrlich, ich wäre ausgerastet, wenn ich wegen dieser Aktion nicht mehr rechtzeitig beim Arzt gelandet wäre. Und gleich erklärt, Mensch, das ist metaphorisch, ich verstehe euch ja. Und ich bin total und absolut gegen jede bescheuerte Gewalt gegen die KleberInnen. Leute, kommt mal runter, ist jeden Tag sowieso Stau.

Ich bin ganz klar für den Ausbau des ÖPNV, ich fahre, wenn es eben geht mit dem Rad. Ich finde diese autogeilen Idioten ekelhaft, die mit Protzgebarem rumfahren, ihr seid für mich ganz arme Würstchen. Aber die Infrastruktur in Deutschland ist ganz auf das Auto hin entstanden. Wir haben einen unfähigen Verkehrsminister, zu Berlin schweige ich lieber, und wenn ich mein Rad mit in die S Bahn nehmen will, muss ich zahlen. Grotesk, das ist die Realität einer klimaignoranten Verkehrspolitik.

Aber mit dieser Kleberei und Sprührerei und Schmiererei – ich habe gemischte Gefühle.

Leben und Tod

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Morgens das Radio einschalten oder Nachrichten im Internet und man wird mit dem Grauen konfrontiert, Morde, Terror, Krieg, Geiselnahme, überall Menschen, die sterben, der Tod allgegenwärtig. Wie soll man damit klar kommen, wie weiterleben, wie kann man „ganz normal“ sein Leben fristen? Wie die alltäglichen Forderungen des Alltags, die einem wie PillePalle vorkommen, bewältigen.

Es war Anfang der 80iger, als ich an einem Workshop in Poggibonsi/Toskana teilnahm: Ein etwas abgedrehtes Thema „Tai Chi und Pantomime“, damals waren solche verrückten Kombinationen durchaus üblich, die Teilnehmerschar war auch etwas verrückt (vom Versicherungsvertreter bis zur Soziologin). Wir waren in einem abgewrackten Burgschlösschen untergebracht, rott und sehr malerisch und mit einem kleinen Swimmingpool ausgestattet, das Highlight. Morgens gingen einige vor dem Beginn des Seminars eine Runde schwimmen. An diesem Tag, ich war spät dran, eilte ich zum Pool, im Wasser schwamm Dagmar. Sie schwamm nicht eigentlich, sie trieb im Wasser. Als Kinder haben wir oft „toter Mann“ gespielt – im Wasser liegend, kopfunter, die Arme ausgebreitet, wie wir uns eine Leiche vorstellten. „Lass den Quatsch, Dagmar“, rief ich und sprang ins Wasser, ging auf sie zu, der Pool war sehr flach, und stupste sie an. Mit einer unerträglich langsamen Bewegung trieb der Körper regungslos von mir weg. Ich wusste im selben Moment, dass sie tot war. Ich schrie um Hilfe, versuchte sie am Beckenrand aus dem Wasser zu heben, andere halfen, Alle Hilfe vergebens, Dagmar war tot, nach einem Herzinfarkt ertrunken. Sie war 20 Jahre alt. Wir weinten, schluchzten, verstummten, umarmten uns. Ich ging langsam zurück in den Burginnenhof, die gerade geborenen drei kleinen Kätzchen spielten wild herum, aufmerksam beobachtet von der Mutter, die Vögel zwitscherten, die Sonne strahlte am azurblauen Himmel, aus weiter Ferne ertönte irgendein Radio und der morgendliche Autoalarm nervte.

Ich verstand plötzlich, das Leben geht einfach weiter, wie immer, keine schwarzen Wolken ziehen auf, kein dunkler, trauriger Celloklang ertönte, die Kätzchen spielten wie jeden Tag, die Vögel zwitscherten. Mir kam alles absurd vor, auch empörend, auch irritierend, dass so gar nichts anders war. Das Leben ging einfach weiter. Wie immer, wie jeden Tag. Und plötzlich hatte das etwas ungeheuer beruhigendes. Das Leben geht weiter. Auch mein Leben geht weiter bis zu meinem Ende. Mit seinen kleinen und großen Herausforderungen und ich lebe, um mein Leben zu leben, nicht nur zu existieren, sondern es mit Leben zu füllen.

Auf dem Grabstein von Herbert Marcuse (1898 – 1979, Dorotheenstädtischer Friedhof, Berlin) ist eingraviert „Weitermachen!“ Ja, weitermachen. Dem ganzen Dreck und dem ganzen Irrsinn ein „Dennoch“ entgegenstellen.

Und ich fühle meine Dankbarkeit und Liebe für meine Kinder und Enkelkinder, für meine Frau, für die Liebe, die mir entgegengebracht wird, einfach so, ohne mein Verdienst, und dass ich selber lieben kann. Das ist für mich die einzig mögliche Antwort: zu lieben und liebevoll über diese Erde zu gehen.

Und natürlich scheitern wir als Menschen, immer und immer wieder.

Ist wohl so.

Mist, jetzt muss ich noch Kartoffeln einkaufen gehen, sonst wird es nichts mit dem Auflauf.

Mörderische Verrücktheit

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Wie kann ich in der heutigen Welt klar kommen?

Ich weiß es nicht.

Die Hamas greift Israel an, Israel greift anschließend die Hamas an.

Die einen schießen Bomben, Raketen, die anderen antworten mit Bomben und Raketen.

Die Hamas nimmt Israelis als Geiseln. Die Israelis bombardieren Häuser im Gazastreifen.

Das Ganze ist kein Computerspiel, Menschen sterben, Frauen, Kinder, Säuglinge, Männer, Jugendliche, Alte.

Es kommt mir alles so verrückt vor.

Wenn ich mir auf youtube/euronews die Nachrichten anschauen will, muss ich erst einmal den Werbeclip abwarten – Spanisches Olivenöl. Das ist doch völlig krank.

Normalerweise ist es nicht sehr gesund, wenn man wegschaut, nicht wahrhaben will, verleugnet, bagatellisiert, rationalisiert, intellektualisiert, Gefühle abspaltet. Mein Beruf besteht als Psychotherapeut u.a. darin, Menschen zu helfen Selbstbetrug deutlich zu machen, Abgespaltenes sichtbar, Verleugnetes in die Sprache zu bringen, wahrnehmen, erkennen, fühlen, ja, auch darunter leiden und einen Weg aus dem inneren „Schlamassel“ finden.

Jetzt muss ich aber wegschauen, darf nichts an mich heranlassen, muss doch verdrängen, muss doch nicht weiter nachdenken. Müsste ich nicht die Schreie der Verletzten, der Sterbenden, das Stöhnen der Schmerzen anerkennen.

Wie geht das?

Business as usual.

Erst einmal die Werbung für Spanisches Olivenöl schauen, ab auf die Einkaufsliste.

In der Ukraine tobt der Krieg weiter. Ganz praktisch läuft das doch so, dass in irgendeiner Montagehalle im Iran Arbeiter Drohnen zusammenbauen, der Vorarbeiter brüllt, hey du, schraub das mal genauer zusammen, dann werden die nach Moskau geschickt, dort verladen, an die Front gebracht und abgeschossen, und eine andere Drohne wird abgeschossen, irgendwo in einer Montagehalle zusammengebaut, wo der Vorarbeiter brüllt, hey du, schraub das mal genauer zusammen, die auch an die Front gebracht wurde, die die gegnerische Drohne zerstört und dabei selber zerstört wird.

DAS IST VERRÜCKT.

Ich lebe in einer Welt von Verrückten. Putin, ein Verrückter, der im Sandkasten nicht genug „bumm bumm“ machen konnte, jetzt Macht hat und tausende in den Tod schickt.

Wie komme ich in diesem Meer von Verrücktheit klar?

Und es gibt noch mehr Verrücktheit. Saudi-Arabien hat 800 Millionen Dollar für den Einkauf von Fußballern ausgegeben. Millionen Menschen hungern, Säuglinge krepieren, Menschen verdursten usw usw. Na und. Der 1. FC Bayern hat für 200 Millionen Euro den Fußballer Kane eingekauft und in der Schule meiner Enkelin darf man die Fenster nicht öffnen, die würden sonst rausfallen.

Ich muss wegschauen, ich darf mir das alles nicht klar machen, ich werde sonst selber verrückt.

Vielleicht rettet mich das Werk von Hans Vaihinger „Die Philosophie des Als Ob“ (1911).

Ich tue jetzt einfach mal so, als ob alles ganz normal ist. Als ob mich nichts stört, als ob mir nichts auffällt, als ob mich nichts empört. Als ob alles so weiter geht wie immer.

Ich gehe wandern, ich gehe spazieren, die Sonne lacht, der Wald ist grün.

Wir tun alle so ALS OB.

Nur nicht genau hinschauen.

Jetzt muss ich erst einmal mit dem Hund spazieren gehen.

Echt jetzt.

EKEL

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Manchmal kann ich mich des Gefühls von Ekel nicht erwehren. Ich sehe diesen grinsenden Kim Jong-un, der sein eigenes Volk hungern lässt, und – nebenbei gesagt – nicht gerade mager wirkt, warum fällt mir nur der Begriff „fettes Schweinchen“ ein, und den Mörder Putin, der Kriegsherr, der Usurpator, der über Leichen geht, um seine Großmachtträume zu verwirklichen. Händeschüttelnd, deals abschließend, Waffen, Waffen, gegen Getreide, Nahrungsmittel. Ein widerliches Szenarium.

Und ich merke gerade, ich muss mich zusammennehmen, darf nicht nachdenken, immer mehr quillt in mir hoch, weggedrückt, nicht hinhören, nicht hinschauen, nichts sagen. Weil da stehen sie doch auf aus dem stinkenden Morast des Unsäglichen.

War nicht gerade der 50. Jahrestag des Putsches in Chile durch den Verbrecher Pinochet (tatkräftig unterstützt von dem vorbildlichen Demokratiestaat USA), mehr als 1100 Menschen werden immer noch vermisst, brutal gefoltert und ermordet.

Und was ist mit den Frauen im Iran und in Afghanistan, unterdrückt, drangsaliert, ermordet, zum Verstummen gebracht. Wo seid ihr eigentlich muslimische Frauen dieser Welt beim Blick auf eure Schwestern, könntet ihr nicht nur einen einzigen Tag eure Kopftücher als Zeichen der Solidarität und des Protestes abnehmen? Ich bin sicher Allah wäre einverstanden.

Und nicht denken darf ich an Syrien und den Massenmörder Assad, der immer noch an der Macht klebt und durch seine Frau bei Harrods in London einkaufen lässt.

Oh je, ich kann gar nicht aufhören, mehr und mehr an Widerlichkeiten, Verstörendem, Grausamkeiten gelangen an die Oberfläche.

Schnell weg damit, sonst kann man ja nicht leben. Die drei Affen, Hand vorm Mund, vor den Augen, vor den Ohren. Das ist unsere westliche Existenz.

Ich bin sicher, auch wenn wir uns noch so sehr bemühen, eine Normalität zu leben, all das Wegdrücken, Wegschauen, Verschweigen, Verstummen kostet Energie. Vielleicht ist es die Erde selbst, die uns durchschütteln, uns abschütteln wird, diese widerliche kleine Bande an Säugetieren.

Treffen wird es – wie immer – die Ärmsten. „Denn die einen sind im Dunkeln und die Andern sind im Licht und man sieht die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht“ – man schaut einfach weg. Immer das gleiche üble Spiel.

Nur wir „gut Situierten“ sollten uns nicht zu sicher fühlen.

Im übrigen ist ja kein Geld da. Für Fußballtransfers schon und zum Spaß kann man sich auch den auf der IAA vorgestellten Mercedes-AMG One kaufen, kostet vor Steuern 2,75 Millionen Euro. Für treue Kunden.

Normalität

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Am Montag, dem 4. September, also vor drei Tagen, wurde um 8:44 im Deutschlandfunk der Politikwissenschaftler und Militäranalyst Franz-Stefan Gady, u.a. tätig für AIES – Austria Institut für Europa und Sicherheitspolitik – zur Lage der Kriegssituation in der Ukraine befragt. Herr Gady gab sich zögerlich, was die Erfolge der Ukraine bei deren Gegenoffensive gegen Russland angeht. Er gab zu bedenken, ob es denn genügend „Reserven“ gibt, die in den „Kampf geworfen“ werden können, und betonte, es handele sich um einen „Abnützungskrieg“, es gehe darum, dem Gegner disproportional, zu dem was man selber erleidet, „Verluste an Menschenmaterial“ zuzufügen. Im Allgemeinen verliere der Angreifer mehr an „Menschenmaterial“ als der Verteidiger.

So ist das wohl.

Alles ganz normal, Verluste an Menschenmaterial.

Die jungen russischen und ukrainischen Soldaten sind Menschenmaterial.

„Es tut uns leid, Frau M. Wir hatten ein wenig mehr Verluste an Menschenmaterial als geplant. Leider gehört ihr Sohn dazu.“

Normale Sprache, Normalität, so ist der Krieg.

Verluste an Menschenmaterial.

Da schreit niemand auf.

Sprache soll ja Wirklichkeit schaffen.

Normalität.

Menschenmaterial. Menschenmaterial.

Das Material bestand tatsächlich aus Menschen, die gestöhnt haben im Todeskampf, die geliebt wurden, geliebt haben, geatmet haben, gelacht haben, vielleicht getötet haben und jetzt als Material entsorgt werden können. Biomasse.

Normalität

Am Mittwoch, 6.9., war im Tagesspiegel ein Artikel über den Hunger in Afghanistan.

Überschrift „Wählen zwischen Hungernden und Verhungernden“. Es fehlt dringend an Geld.

Normalität

Vor einigen Wochen ist ein Fussballspieler namens Harry Kane für rund 100 Millionen Euro zum FC Bayern München gewechselt. Es gibt noch höhere Transfersummen für Spieler, z.B. nach Saudi-Arabien. Geld spielt keine Rolle.

Normalität

Ich habe es schwer mit der Normalität.

Sie kommt mir so krank vor.

Die Eisenbahn

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Reisen mit der Deutschen Bahn – Benutzungshilfe –

Die hier vorgestellte Hilfsanweisung für Fahrten mit der Deutschen Bahn basiert (neben vielen früheren Reisen) auf der konkreten Fahrt nach Würzburg am 19.08.23 hin, 20.08.23 zurück.

Abfahrt Berlin am 19.08. mit 10 Minuten Verspätung: Normal. Wagenreihung umgekehrt: Normal. Klimaanlage ausgefallen: Normal. Information über technischen Defekt der Klimaanlage nach einer Stunde: Normal. Information über möglichen Wechsel in den einzigen Waggon mit Klimaanlage 40 Minuten vor Ankunft: Normal. Weiterfahrt von Bamberg aus pünktlich: Unnormal. 200 Meter vor Ankunft in Würzburg plötzlicher Halt (ein angetrunkener Jungmann hat bei voller Fahrt die Tür aufgerissen): kann vorkommen. Abwarten auf Ankunft der Bahnpolizei: Kommt vor. Merke: Es gibt zuviele Schwachmaten (meist jung und männlich und angetrunken) als Mitreisende.

Rückfahrt – pünktliche Abfahrt des ICE: Nicht normal. Wagenreihung stimmt: Ausnahme. Klimaanlage funktioniert (bei 33 Grad Außentemperatur): Nicht normal. Folge: Glücksgefühle (merke: die DB kann auch glücklich machen).

Halt auf freier Strecke wegen technischer Störung: Kommt vor. Schnelle Information über Störung: Kommt selten vor. Information über langsame Weiterfahrt: kommt sehr selten vor, gut. Information über Wechselmöglichkeit zum nächsten ICE, weil der eigentliche ICE nur langsam fahren kann: Angemessen. Fluchtartiger Wechsel in den nächsten ICE: Anstrengend. Sitzplatz im neuen ICE: Glücksgefühle. 8 Minuten vor Schließung des Bistro noch Croissant und Rotwein ergattert: Starke Glücksgefühle. Insgesamte Verspätung: 2 Stunden.

Dankbarkeit: Überhaupt angekommen.

Reiseempfehlung

Immer immer ausreichend essen und trinken mitnehmen: Fahrt dauert erheblich (!) länger als geplant (Bistro geschlossen, Restaurant überfüllt, Bistro ausverkauft).

Ausreichende und passende Kleidung mitnehmen: Kann sein, Klimaanlage ist auf Vereisung eingestellt, Pullover bereithalten. Kann sein, sie fällt aus, daher lockere Kleidung.

Technische Störungen erfordern blitzschnelle Umplanung und Entscheidungen (Zug bleibt liegen, erreicht nur den nächsten Bahnhof, Umsteigen erforderlich…). Positiv: Das stärkt die Flexibilität.

Im Ticketpreis kostenlos inbegriffen ein Training in Geduld und Dankbarkeit (sei froh, dass die DB dich mitnimmt), dies dient der Persönlichkeitsentwicklung.

Hinweis auf 5 Gründe für das Desaster DB: https://www.youtube.com/watch?v=vUPbXMrm0aM

Einfache Erklärung für alles

Das jahrzehntelange Primat des AUTOs. Die gesamte Infrastruktur ist auf das Auto ausgerichtet. Bis heute. Es gibt wohl keine erfolgreichere Lobby wie die Autolobby.

Die Schweiz, Norwegen, Luxemburg investieren in die Schieneninfrastruktur 150 bis knapp 400 Prozent mehr als Deutschland.

https://www.tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/schienennetz-investitionen-allianz-pro-schiene-zug-101.html

Verbundenheit

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Ich habe Schildkrötensuppe gegessen. Muss vor ca 40 Jahren gewesen sein. Oder 45 Jahren. Ein seltener Genuss, weil Schildkrötensuppe was besonderes war. Auch teuer, es gab sie in einer Dose von Lacroix, was besseres als Maggi, Knorr usw. Ich erinnere mich nicht an den Geschmack. Nur daran, dass ich mir nichts dabei gedacht habe. Manches in meinem Leben habe ich einfach mal so gemacht, mir nichts weiter dabei gedacht. Das scheint eine der häufigsten Handlungen des sog homo sapiens zu sein, er denkt sich nichts dabei, oder noch häufiger: die Folgen des Handelns sind egal oder in mehr oder weniger aufwändigen Exkulpationsstrategien entschuldigt. Der sog. vernünftige Mensch produziert Zerstörung und verhält sich im Grunde, was die Folgen seines Verhaltens angeht, schwachsinnig. Schon 1726 stellt der König der Riesen in Swifts Gullivers Reisen fest: „I cannot but conclude the bulk of your natives to be the most pernicious race of little odious vermin that nature ever suffered to crawl upon the surface of the earth. („Ich muss feststellen, dass ein Großteil Eurer Eingeborenen die verderblichste Rasse von widerlichem kleinen Gewürm ist, die die Natur je auf der Oberfläche der Erde erleiden musste“.)

Der Mensch ist die gefährlichste und brutalste Species auf diesem Planeten.

https://www.youtube.com/watch?v=9rnTMAKrh-w

Was die Schildkröten betrifft, so gibt es die gruselige Geschichte von Patricia Highsmith über eine Schildkrötensuppe und einen Mord. In ihrem 1985 im Zürcher Diogenes Verlag erschienen Buch „Suspense oder Wie man einen Thriller schreibt“ erzählt die Autorin, wie sie auf das Motiv der Geschichte gestoßen ist, sie blätterte bei Freunden in einem Kochbuch und fand ein grässliches Rezept für Schildkröten-Ragout

(https://www.kultur-online.net/inhalt/patricia-highsmith-und-die-schildkr%C3%B6te).

Das Rezept für Schildkrötensuppe war scheußlich, man musste warten, bis die Schildkröte den Kopf vorstreckte, den man dann mit einem scharfen Messer abtrennte. Usus war auch, dass man die lebende Schildkröte einfach in kochendes Wasser warf. Highsmith: Sobald ich das gelesen hatte, kam mir eine Geschichte mit einem drangsalierten kleinen Jungen in den Sinn. Ich wollte eine Schildkröte als Angelpunkt der Story nehmen: die Mutter hatte die Schildkröte zum Kochen mitgebracht – eine Schildkröte, von der der Junge zunächst glaubt, sie sei für ihn zum Spielen bestimmt. Der Junge erzählt einem Schulfreund von der Schildkröte, er versucht damit sein Prestige zu heben und verspricht, sie ihm zu zeigen. Dann muss der Junge erleben, wie die Schildkröte in kochendem Wasser umgebracht wird, und die ganze aufgestaute Bitterkeit, der schwelende Hass auf die Mutter kommen zum Ausbruch. Mitten in der Nacht tötet er die Mutter mit dem Küchenmesser, das sie zum Tranchieren der Schildkröte benutzt hatte.

Vielleicht hat Patricia Highsmith in dem Kochbuch von Louise Fialas „Die moderne Wiener Küche“ geblättert, ein Standardwerk. Empfindsame LeserInnen jetzt besser nicht weiterlesen. Fialas Schildkrötenrezept geht nämlich folgendermaßen: „Schildkröten, abgekocht. Man legt der Schildkröte eine glühende Eisenplatte auf den Rücken, wobei sie dann die Füße und den Kopf zum Vorscheine bringt; diese hackt man sogleich ab. Nun wird die Schildkröte öfters in lauwarmes Wasser gegeben, um das Blut völlig abzusondern, wonach man sie mit kaltem Wasser abspült, salzt und eine Stunde kochen lässt. Ist sie abgekocht, so wird die Schale samt der Haut abgelöst, die Galle aus der Leber, sowie das Eingeweide behutsam ausgenommen und das Fleisch in vier Teile zerschnitten. Hat man dann in einer Casserolle Zwiebel, Wurzelwerk und Champignons in Butter etwas anpassirt, mit der aufgekochten Schildkrötensuppe aufgegossen und aufgekocht, so wird diese abgeseiht, mit einer Butter-Sauce abgerührt und mit etwas Muskatnuß noch einmal aufgekocht. Die Sauce wird dann über die zertheilte Schildkröte gegossen.“ Mit den Schildkröten alter bürgerlicher Kochbücher waren im übrigen nicht die großen maritimen Suppenschildkröten gemeint, sondern die damals auch in Deutschland recht verbreiteten kleinen Teichschildkröten, die im frühen 19. Jahrhundert sogar eine Zeitlang ein preußischer Exportartikel waren.

Seit 1988 jedoch steht die Suppenschildkröte durch das Washingtoner Artenschutzabkommen unter internationalem Schutz – die Schildkrötensuppe ist nicht mehr legal erhältlich. Aber selbstverständlich kann man auch heute noch Schildkrötensuppe zubereiten, genaue Anleitung: https://de.wikihow.com/Schildkr%C3%B6tensuppe-kochen. Offenbar gibt es Fleisch zu kaufen (siehe ebay und amazon).

Falls jetzt Überlegenheitsgefühle auftauchen mit dem Spruch, wir seien mittlerweile viel zivilisierter, sei daran erinnert, wie es heutzutage zugeht: Tiere werden ohne Wasser und Nahrung über Hunderte Kilometer zum Schlachten transportiert, Qualzucht von Schweinen, Kühen, Geflügel, Schreddern von Küken (weltweit sind es jährlich etwa 2,5 Milliarden Küken. Das sind fast 7 Millionen Eintagsküken täglich) usw usw.

Wie bin ich aber auf Schildkröten als Thema gekommen?

Durch ein Interview mit der Meeresbiologin Christine Figgener

(https://www.n-tv.de/wissen/Christine-Figgener-im-Klima-Labor-Meeresschildkroeten-haben-Dinosaurier-ueberlebt-aber-nicht-uns-Menschen-article24261526.html)

Die Auswanderin wurde 2015 bekannt, als sie und ihr Team einer Schildkröte einen Strohhalm aus der Nase zogen und sie die schmerzhafte Prozedur auf Video festhielt. Durch das Video sind aus 200 Followern fast 15.000 auf Instagram und fast 300.000 auf Youtube geworden.Ihr Buch „Meine Reise mit den Meeresschildkröten “ ist im März 2023 erschienen. Mit ihrem Mann und ihrem Hund lebt sie in Costa Rica und leitet dort ihre Naturschutzorganisation COASTS, die sich durch Spenden finanziert. Ihre Arbeit kann über den deutschen Förderverein ProMare e.V. unterstützt werden.

In dem Interview macht die Aktivistin deutlich, in welchem Umfang ökologische komplexe Systeme bestehen, die unser Leben beeinflussen und bestimmen. Die Schildkröten werden ausgerottet durch die Folgen unseres Lebensstils: Überfischung, Beifang, die direkte Ausbeutung von Meeresschildkröten und von deren Eiern, aber auch Plastik. „Gerade Lederschildkröten sind prädestiniert, Plastik zu fressen, weil sie sich von Quallen ernähren und Plastiktüten aussehen wie Quallen.“ Und wenn man jetzt denkt, was gehen mich in Europa die Meeresschildkröten an, dann wird in diesem Interview deutlich gemacht, dass wir unmittelbar abhängig sind von diesen großartigen Systemen im Meer, z.B. ernährt sich die Echte Karettschildkröte hauptsächlich von Schwämmen. „Das sind sehr einfache, hochtoxische Tiere, die in denselben Gebieten wachsen wie Korallen, nur viel schneller. Korallenriffe sind unsere Unterwasser-Regenwälder, unsere blauen Lungen. Die produzieren etwa 50 Prozent des Sauerstoffs, den wir atmen. Mit der Zeit würden diese Schwämme die Korallen überwachsen. Das heißt, Echte Karettschildkröten sind eigentlich Landschaftsarchitekten oder Gärtner, die helfen, Korallen gesund zu halten.“ Faszinierend!!! Schlusswort von Christine Figgener: „Am Ende sind unser Meer und seine verschiedenen Ökosysteme ein riesiger Jenga-Turm, aus dem wir kontinuierlich Arten herausnehmen, ohne zu wissen, was passieren wird. Auch die Wissenschaft kann das kaum einschätzen, weil wir nicht schnell genug hinterherkommen, um alle Zusammenhänge zu verstehen. Aber irgendwann wird der ganze Turm zusammenkrachen, das wissen wir. Es ist nur eine Frage der Zeit.“ (Jenga Turm – ein Geschicklichkeitsspiel. Bauklötzchen werden zu einem Turm aufgeschichtet, die SpielerInnen nehmen jeweils ein Klötzchen raus, irgendwann kracht der Turm zusammen )

Das Bild des Jenga Turms, aus dem nach und nach völlig unbedarft die einzelnen Klötzchen rausgenommen werden, der dann unweigerlich zusammenstürzt, hat mich tief beeindruckt. Eine zutreffende Metapher für die Zerstörung unserer Lebenswelt – durch uns selbst.

Wir als Menschen haben offenbar immer noch nicht begriffen, wie sehr alles miteinander verbunden ist (das hört sich immer so esoterisch an). Es ist nicht möglich, einzelne Teile isoliert zu nutzen (z.B. wir schürfen jetzt mal einfach in der Tiefsee nach Mangan o.ä., wird nur ein paar Fischlein stören). Die Fähigkeit des Menschen, die Natur ausschließlich FÜR SICH zu nutzen, ist enorm. Und die Gier genauso enorm. Und die Gleichgültigkeit gegenüber anderen Lebewesen und dem Planeten Erde ebenso. Unser Wohlstand beruht auf ausbeuterischem Vorgehen weltweit.

Aufschlussreich: Lessenich, Stephan „Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“ Hanser Verlag 2016. Inhalt: Uns im Westen geht es gut, weil es den meisten Menschen anderswo schlecht geht. Wir lagern systematisch Armut und Ungerechtigkeit aus, im kleinen wie im großen Maßstab. Und wir alle verdrängen unseren Anteil an dieser Praxis.

Was bedeutet das für mich? Zunächst mal die Erkenntnis, dass ich unweigerlich Teil dieses Ausbeutungs- und Zerstörungsprozesses bin. Durch meinen Lebensstil. So ist eine vegetarische Ernährungsweise ohne Zweifel für das Klima günstig. Schaffe ich nicht. Auch gehen mir Moralapostel, die mit belehrender Attitüde und Überlegenheitsgestus herumlaufen, auf die Nerven. Immerhin versuche ich, klimabewußt zu leben. Gleichzeitig staune ich, mit welcher Unbedarftheit manche ZeitgenossInnen durch die Welt düsen. Flugscham, ach ne. Hedonismus als Lebensphilosophie. Und mich macht geradezu wütend, wie eine reiche Schicht ungeniert lebt, Menschen, die mal eben zum Kaffeetrinken mit dem Privatjet von Hamburg aus nach Sylt düsen, natürlich klimabewusst mit dem Rad zum Flughafen. Die Diskrepanz zwischen dem Ausstoß an CO2 zwischen den Reichen und der Normalbevölkerung ist unglaublich.

Im übrigen halte ich die Verschiebung der Verantwortung für den Klimawandel auf den Einzelnen für einen geschickten Schachzug der Politik. So läuft der einzelne mit einem schlechten Gewissen herum, während die tatsächlichen, den Lebensalltag betreffenden Regulierungen vermieden werden, Schonung der „Wirtschaft“, Klientelpolitik (FDP), Konfliktvermeidung. Eine über Jahrzehnte auf das Auto hin ausgerichtete Infrastruktur bedarf einschneidender Veränderungen, die nur auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene politisch durchzusetzen sind. Was ja überhaupt nicht bedeutet, dass der Einzelne nicht Verantwortung übernehmen muss. Und es geht nicht ohne einen gewissen Verzicht. Was ist daran so schlimm? Solange aber die Haltung „ich will Spaß haben“ vorherrscht und auch noch mit Anerkennung und Beifall belohnt wird, wird sich nichts ändern.

Dann mal ab in den Abgrund.

Literatur: Die Welt da drinnen. Wahnsinn T 4

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Mein blog hat den Namen „bleskenliteratur“, tatsächlich habe ich wenig über Literatur geschrieben. Diesmal geht es um ein außergewöhnliches Buch über Ereignisse vor 82 Jahre:

Helga Schubert „Die Welt da drinnen“. Eine deutsche Nervenklinik und der Wahn vom unwerten Leben. München 2021 (dtv)

Es ist nicht einfach, etwas über dieses Werk der Schriftstellerin Helga Schubert zu sagen, ein Text über den Wahn, in dem Kranke in ihrem Inneren gefangen sind, und einen Wahn im Außen, der Wahn der sog Gesunden, der Ärzte, der Wahnsinn einer Ideologie des Herrenmenschen, der Wahn, der Mensch könne sich anmaßen, über den Wert des Lebens anderer Menschen zu urteilen.

Diese Ungeheuerlichkeit beginnt auf Seite 144 des überall in Deutschland ausliegenden Buches „Mein Kampf“. Dort befindet Hitler, die Erhaltung des Minderwertigen sei eine Verhöhnung der Natur. Und weiter äußert er, für alle lesbar, „..man solle möglichst viele Kinder erzeugen, müsse dann aber, um der Überbevölkerung vorzubeugen, die erzeugten Menschen prüfen und sodann alles geistig oder körperlich Schwache vernichten. Jeder Humanitätsdusel sei hier nur Feigheit.“ (Schubert, 2021, S. 99)

Das Buch von Helga Schubert „Die Welt da drinnen“ schildert die Umsetzung dieser abstoßenden Auffassung im Nationalsozialismus. In einem Geheimerlass vom Oktober 1939 (rückdatiert auf den 1. September 1039, Beginn des 2. Weltkriegs) veranlasst Hitler auf einem Zettel die T 4 Aktion, die Vernichtung sog lebensunwerten Lebens.

Helga Schubert berichtet in anrührender und anschaulicher Weise von PatientInnen, die in ihrer eigenen Welt gefangen sind und/oder den Anforderungen der Welt der sog. Normalen und Gesunden nicht entsprechen können. In ihrer Darstellung der planmäßigen, verwaltungstechnisch perfekten Durchführung der Tötung von Menschen, untergebracht in der Schweriner Nervenklinik, fließt mit ein, wie es ihr selber bei dieser Thematik ging, sie lässt die LeserInnen teilhaben an ihren eigenen Empfindungen und an ihrer eigenen Lebensgeschichte – und das ganz und gar uneitel, eher beiläufig und gerade dadurch um so eindrücklicher. Die Autorin (Jahrgang 1940) ist erst 2020 durch den Ingeborg-Bachmann-Preis einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Helga Schubert lebt heute in der Nähe von Schwerin, arbeitete als Psychotherapeutin und Schriftstellerin in der DDR.

Konkret geht es um die Ermordung von 179 PatientInnen der Schweriner Nervenklinik im Jahr 1941. Die Akten dieser Verbrechen, sehr deutsch und sorgfältig dokumentiert, waren im Ministerium für Staatssicherheit der DDR unter Verschluss und konnten erst nach der Wende durch Überstellung ins Bundesarchiv ausgewertet werden. 179 PatientInnen sind nur ein Bruchteil der ca 100000 Erwachsenen und 5000 Kinder, die als lebensunwert ermordet wurden.

Anhand von Einzelschicksalen wird die Kaltblütigkeit, die bürokratische Perfektion der Durchführung, sichtbar. Helga Schubert vermag einfühlsam und sehr konkret einzelne von den 179 PatientInnen darzustellen und ihren Gang in den Tod in umgebauten Duschräumen zu vergegenwärtigen. Im Krankenhaus Bernburg (die PatientInnen wurden in Bussen dorthin gekarrt) wurden insgesamt 9385 Kranke und Behinderte ermordet und anschließend verbrannt, man händigte den Angehörigen Totenscheine mit gefälschten Diagnosen und einen Behälter mit der angeblichen Asche der Toten aus. In ihrer widerlichen Perfektion sind diese Taten unglaublich. Anschließend wurden von August 1941 bis März 1943 noch fünftausend Häftlinge aus den KZs dort vergiftet, praktischer Weise bestanden ja die Tötungsduschen bereits, das musste doch wohl genutzt werden.

In einer Diskussion mit Berliner GymnasiastInnen (S. 257 ff) spricht Helga Schubert mit den SchülerInnen, wie würden diese sich in einer ähnlichen Situation heute verhalten, wie sehen sie das Thema „Euthanasie“.

Das Buch von Helga Schubert ist absolut lesenswert, regt zum Nachdenken an – auch was unsere Diskussion über selbstbestimmtes Sterben angeht.

Nachtrag

Die T 4 Aktion wurde im August 1941 aufgehoben, nachdem der katholische Bischof von Galen in Münster in einer Predigt öffentlich die Euthanasie-Morde verurteilte. Die herrschende Naziclique fürchtete zu viel Unruhe in der Bevölkerung, Goebbels riet zur taktischen Mäßigung.

Diese Aufhebung bedeutete keineswegs, dass das Morden aufhörte, es folgte die heimliche „wilde Euthanasie“ (siehe https://www.gedenken-nt.de/dokumente/dunkelziffer-wilde-euthanasie/). „Die Patientinnen und Patienten werden nicht mehr mit Gas getötet, sondern durch Unterernährung, vernachlässigte Hygiene, überdosierte Schlafmittel wie Luminal oder Veronal oder Giftspritzen mit Morphium-Scopolamin, das zu Lungenentzündung und Atemstillstand führt.“

Man ließ Erwachsene und Kinder gezielt verhungern und lagerte sie wie Abfall auf uringetränkten Strohmatten im Keller, bis sie krepierten.

Was mich zutiefst mit Wut und Hilflosigkeit erfüllt ist der Umstand, dass heute 20% der deutschen Bevölkerung eine Partei wählen würde oder gewählt hat, die diese Zeit des Nationalsozialismus, eine Zeit ungeheuerlicher Verbrechen, lediglich als „Fliegenschiss“ bezeichnet und mit einem begrifflichen Vokabular wie z.B. „Umvolkung“ operiert, das aus dem faschistischen Baukasten stammt.

Das kalte Lächeln einer Alice Weidel und das höhnische Grinsen eines Bernd Höcke lassen mich erschauern.

Siehe

https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Von-Langenhorn-nach-Hadamar-Euthanasie-an-Hamburgs-Kranken,euthanasie124.

html http://www.rothenburg-unterm-hakenkreuz.de/euthanasie-ii-erfassung-der-geistig-behinderten-kinder-ihre-begutachtung-und-anschliessende-toetung/

https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/295244/vor-80-jahren-beginn-der-ns-euthanasie-programme/

https://de.wikipedia.org/wiki/Aktion_T4

Ernst Klee „ Was sie taten – Was sie wurden: Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord“ Fischer 1986

Ungleichheit

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Da war doch was. Muss schon länger her sein.

Großes Rauschen in den Medien.

Ellenlange Berichterstattung.

Eine immense mediale Begleitung.

Technische Erörterungen. Fachkommentare. Einsatz von Flugzeugen, Schiffen, Navy usw. Anteilnahme. Trauer.

Nein, es geht nicht um das Bootsunglück in Griechenland am 14. Juni mit ca 700 Toten (viele Kinder, Frauen), nein, es handelt sich um die faszinierende Geschichte eines Tauchbootes, die „Titan“, gemietet für einen Ticketpreis von 250000 Dollar pro Person von 3 Passagieren, an Bord noch zwei Experten. Ein Tiefseeausflug zur 1912 gesunkenen Titanic (1514 Tote).

Eine aufregende Exkursion, wie titelt die Berliner Zeitung über die Motivation der 3 Passagiere an Bord der „Titan“: „Die Suche nach dem ultimativen Kick“. (22.Juni). Einer der Passagiere war der 58jährige Milliardär Hamish Harding, er habe für seine Familie, seine Firma und das nächste Abenteuer gelebt. Der Mann hat drei Einträge im Guiness Book of Records (2019 die schnellste Erdumrundung mit einem Flugzeug, 2021 Tauchgang im Mariannengraben, 2022 Tourist im Weltraum), die Erstellung dieser 3 Guiness Einträge dürfte Millionen Dollar gekostet haben.

Vermutlich ist das Mini-U-Boot bereits am Sonntag 18. 6. implodiert, die Insassen in Millisekunden gestorben, sie haben ihren eigenen Tod gewissermaßen nicht mitbekommen, es sei so, als werde plötzlich das Licht ausgeschaltet.

In den Medien wurde allerdings bis Donnerstag 22.6. gefachsimpelt, wieviel Sauerstoff noch vorhanden sei, natürlich eine schreckliche Vorstellung, jemand erstickt langsam.

Wie ist es wohl den Frauen und Kindern ergangen, die im Frachtraum des Flüchtlingsbootes eingesperrt ertranken? Dazu gab es keine Nachrichten.

Die zeitliche Nähe der beiden Ereignisse und der riesige Unterschied im Aufwand der Rettungsmaßnahmen gerieten ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Sind Menschen weniger empathisch mit den vielen ertrunkenen Geflüchteten, das Mittelmeer – ein Meer des Todes – , als mit den fünf privilegierten Menschen an Bord eines freiwillig gecharterten Boots für einen teuren Trip als Nervenkitzel. Hier Menschen, die vor Hunger, Krieg, Elend fliehen, dort Superreiche, die sich alles leisten können. Fünf Menschen in einem Tauchboot, Menschen aus unserem Kulturkreis, keine Flüchtlinge, Akteure mit sehr viel Geld, sind uns näher, erregen – medial gesteuert – unsere Aufmerksamkeit und unser Mitempfinden. Die ertrunkenen Flüchtlinge sind nicht mehr als eine Zahl.

Experten erklären das Entstehen von Mitgefühl und Empathie „mit der gefühlten Nähe oder auch Ähnlichkeit zu einer betroffenen Person“ (Neurowissenschaftlerin Grit Hein in der Welt vom 23.6.).

Geflüchtete erscheinen als namenlose, amorphe Masse, wir wissen nichts über die einzelnen Menschen.

Aber halt, wir wissen doch von den Zuständen in deren Heimat, wir sehen doch in den Nachrichten die Bilder von halb verhungerten Säuglingen, von ausgemergelten Müttern, die ihre Babys halten, von verdorrten Feldern und verhungerten Tieren.

Doch wir sind es gewohnt, wegzuschauen, wir blenden aus, wir spalten ab, das können wir alle in der sog zivilisierten Welt. Wir alle im „Norden“ leben auf Kosten der Armen im Süden. Wir versauen mit unserer Lebensweise die Erde und die Folgen müssen die tragen, die in Bangladesh oder Pakistan oder Afrika leben.

Diese Erkenntnis ist unangenehm, das wollen wir schnell vergessen. Es ist für manche schwierig, mit dieser Last an Schuld zu leben, doch viele können das bestens. Business as usual. Spaß haben. Das Positive sehen. Doch der kritische Blick bleibt und befreit von den Selbstlügen. „Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?“ wurde dieser 1930 gefragt. Ja, wo bleibt es, fragt er zurück und beharrt auf seiner kritischen Sicht.

Noch klappt das mit dem Abspalten, doch die Folgen unseres Lebenswandels rücken langsam näher, Dürre in Spanien und in Frankreich, Überschwemmungen in Italien, Probleme mit der Trinkwasserversorgung in England, und auch Deutschland ist kein geschützter Ort.

Das zufällige Zusammentreffen zweier schrecklicher Ereignisse macht augenfällig, was immer schon Realität ist, die enorme Ungleichheit der Lebensweisen und deren Folgen auf dieser Erde, sichtbar z.B. in der Verteilung des Hungers in der Welt (https://www.welthungerhilfe.de/hunger/welthunger-index/), etwa 3,1 Millionen Kinder unter 5 Jahren sterben jährlich an Hunger. Wir wissen von der weltweiten Flucht vor Kriegen, wir wissen vom Sterben durch Krankheiten (z.B. 1,8 Mio Todesfälle durch Tuberkulose), wir wissen von der grausamen Behandlung von Frauen im Namen einer Gottheit.

Bodo Wartke „Nicht in meinem Namen“ https://www.youtube.com/watch?v=1hBVqgxA_Cg

Und ganz klar ist, Menschen in den reichen Ländern sind erheblich weniger betroffen.

„Denn die einen sind im Dunkeln, und die anderen sind im Licht. Und man siehet die im Lichte, Die im Dunkel sieht man nicht“ (Brecht, Dreigroschenoper).

Schon beim Untergang der Titanic zeigt sich das. Passagiere der unteren Klassen starben weit mehr als die Benutzer der ersten Klasse, die Reichen wurden gerettet, die ärmeren Passagiere sind ertrunken. (de.statista.com)

Die Medien tragen ihren Teil dazu bei, dass effekthascherisch „Ereignisse“ in den Vordergrund gestellt werden, die uns zur Identifikation einladen. Es kommt hinzu, dass Wertungen vermittelt werden, die bei genauem Hinschauen fragwürdig sind. Da ist z.B. der Abenteurer Hamish Harding (RiP), mit seinen – aus meiner Sicht albernen – Eintragungen ins Guiness Book of Records. Ich fände es ganz schön, wenn man lesen könnte, Mr. Harding habe seine Millionen dafür eingesetzt, Schulen in Nigeria zu eröffnen, Brunnen in Namibia zu errichten, Krankenstationen in der Sahelzone aufzubauen. Stattdessen ist er für zigtausende von Dollar im Flugzeug um die Erde gerast (in 46 Stunden, 40 Min und 22 Sec), na toll.

Selbstverständlich sollte jeder in Lebensgefahr gerettet werden.

Betonung auf jeder und jede. Egal wo und egal wie reich oder arm. Eine gerechtere Verteilung der Bemühungen, mehr Menschlichkeit, mehr Fürsorge für die Ärmsten der Armen wäre eine sinnvolle Aufgabe und ein gutes Ziel für den homo sapiens.

Müdigkeit

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Erschöpfung Müdigkeit ohne Kraft

Es ist wie ein schwerer Teppich auf mir, nein in mir.

Gehen durch zähen Matsch, jeder Schritt mühsam.

Aber Funktionieren. Funktionieren. Wer wird schon aufgeben.

Funktionieren ist normal. Niemand ruft „Bravo“.

Die Erschöpfung primär körperlich.

Trägheit, Liegen bleiben, nichts tun. Das Bett als verheissungsvoller Ort.

Das Aufhören aller Ansprüche.

Ich müsste dies, ich müsste das. Ich soll dies, ich soll das.

Ein Albtraum, ich wandere durch ein Spalier von Plakate Tragenden,

tu dies, tu das, lass das sein, lass jenes sein.

Wo kommen die alle her, was wollen die in meinem Leben.

Welch aufgeplusterter Anspruch.

Weg damit.

Ich will meine Ruhe haben.

Erschöpfung und Ruhe haben wollen – das passt zusammen.

Wie ist die Erschöpfung? Und warum?

Das erste: Zuviel.

Das große Zuviel und das kleine Nichts.

Jens Risch: Das große Nichts und das kleine Alles.

https://www.swr.de/swr2/doku-und-feature/das-grosse-nichts-und-das-kleine-alles-portraet-des-kuenstlers-jens-risch-in-12-szenen-swr2-feature-2022-06-19-100.html

Knoten. Knüpfen. Verknüpfungen.

Festgeknüpft. Gulliver am Boden.

Der große Gulliver und die kleinen Fäden. Gebunden durch tausend Fäden.

Zuviele Fäden, die einen festbinden. Festgezurrt.

Fest gemauert in der Erden steht die Form, aus Lehm gebrannt. Schiller

Bin ich nur etwas, was in eine schon vorher gegebene Form gegossen wird.

Alles Freiheitdenken Illusion. Du entkommst nicht. Eingefügt in eine Form.

Du sollst.

Am Ende glaubst Du es Dir selber, du sollst, du musst .

Transformation zum „ich will“.

Wirklich?

Die Todessequenz, das Aufbäumen eines Eigentlich, aber zu spät.

Eigentlich wollte ich gar nicht soviel arbeiten

eigentlich wollte ich gar nicht dies und auch nicht das

was habe ich falsch gemacht.

Das höhnische Lachen eines „Zu spät“.

Wie kann es sein, dass ich so erschöpft bin.

Erschöpft bist du, wenn du zuviel zu weit und zu lange trägst.

Die Last, die Lasten, die Du eigentlich gar nicht tragen willst.

Du willst nicht und unterwirfst dich einem „du musst aber“

in der Maskerade „ich will es selber“.

Ein kleines Eigentlich winkt zum Abschied.