Gemischte Gefühle 1

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Angesichts der Komplexität der meisten gesellschaftlichen, politischen und ökologischen Phänomene ist eine Eindeutigkeit der Meinung schwierig. Im Gegenteil sind Menschen, die so ganz genau wissen, was richtig und falsch ist, die womöglich die WAHRHEIT besitzen, mir suspekt. Ein wenig beneide ich die auch. Bei mir herrscht oft so ein HinundHer.

Gestern musste ich wegen höllischer Schmerzen zum Arzt, ich brauchte ein Taxi, und zwar schnell. Bei der Fahrt quer durch die Stadt, kam im Radio die Nachricht, die „Letzte Generation“ habe mal wieder irgendeinen Autoabschnitt durch Festkleben blockiert. Mir lief der Angstschweiß, saßen wir etwa gleich im Stau fest, das schien mir kaum aushaltbar. Gleichmütig meinte der Fahrer, er fahre eine Alternativroute, alles kein Problem.

Das bleibt also von der „Letzten Generation“, eine alltägliche Störung, die nach kurzer Zeit überwunden, die Schmiere an einem Gebäude, an einem Kunstwerk abgewischt, hinterher alles wie immer, am nächsten Tag oder in nur einer Stunde geht der Alltag weiter. Klima? Was für ein Klima? Interessiert nicht.

Und da sind sie wieder diese gemischten Gefühle. Klar, ich verstehe die Sorgen der „Letzten Generation“, es sind durchaus meine Sorgen. Aber was muten sie den Menschen zu, Störungen, Belästigungen, Arbeitserschwernisse, Konflikte. In meinem Fall Verlängerung der Schmerzen, in anderen Fällen das Ausfallen des Termins im Krankenhaus usw usw. Und dann kommt das Totschlagargument, ist doch alles nichts angesichts der Klimakatastrophe. Macht doch nichts, wenn ein paar Menschen belästigt werden, vielleicht länger Schmerzen haben. Im Bewusstsein einer Mission für das Richtige und Wahre trampelt man im Leben anderer herum. Im Grunde werden „die Anderen“ zu einer unpersönlichen, amorphen Masse, die die Aktionen einfach aushält. Muss sich irgendwie gut anfühlen, ich bin auf der richtigen Seite, ich bin der Märtyrer, ich klopfe mir selber auf die Schulter, toller Einsatz, super Erfolg, zehntausend Autofahrer blockiert. Ach richtig, das Klima, darum geht es ja.

Ehrlich, ich wäre ausgerastet, wenn ich wegen dieser Aktion nicht mehr rechtzeitig beim Arzt gelandet wäre. Und gleich erklärt, Mensch, das ist metaphorisch, ich verstehe euch ja. Und ich bin total und absolut gegen jede bescheuerte Gewalt gegen die KleberInnen. Leute, kommt mal runter, ist jeden Tag sowieso Stau.

Ich bin ganz klar für den Ausbau des ÖPNV, ich fahre, wenn es eben geht mit dem Rad. Ich finde diese autogeilen Idioten ekelhaft, die mit Protzgebarem rumfahren, ihr seid für mich ganz arme Würstchen. Aber die Infrastruktur in Deutschland ist ganz auf das Auto hin entstanden. Wir haben einen unfähigen Verkehrsminister, zu Berlin schweige ich lieber, und wenn ich mein Rad mit in die S Bahn nehmen will, muss ich zahlen. Grotesk, das ist die Realität einer klimaignoranten Verkehrspolitik.

Aber mit dieser Kleberei und Sprührerei und Schmiererei – ich habe gemischte Gefühle.

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