Literatur: Die Welt da drinnen. Wahnsinn T 4

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Mein blog hat den Namen „bleskenliteratur“, tatsächlich habe ich wenig über Literatur geschrieben. Diesmal geht es um ein außergewöhnliches Buch über Ereignisse vor 82 Jahre:

Helga Schubert „Die Welt da drinnen“. Eine deutsche Nervenklinik und der Wahn vom unwerten Leben. München 2021 (dtv)

Es ist nicht einfach, etwas über dieses Werk der Schriftstellerin Helga Schubert zu sagen, ein Text über den Wahn, in dem Kranke in ihrem Inneren gefangen sind, und einen Wahn im Außen, der Wahn der sog Gesunden, der Ärzte, der Wahnsinn einer Ideologie des Herrenmenschen, der Wahn, der Mensch könne sich anmaßen, über den Wert des Lebens anderer Menschen zu urteilen.

Diese Ungeheuerlichkeit beginnt auf Seite 144 des überall in Deutschland ausliegenden Buches „Mein Kampf“. Dort befindet Hitler, die Erhaltung des Minderwertigen sei eine Verhöhnung der Natur. Und weiter äußert er, für alle lesbar, „..man solle möglichst viele Kinder erzeugen, müsse dann aber, um der Überbevölkerung vorzubeugen, die erzeugten Menschen prüfen und sodann alles geistig oder körperlich Schwache vernichten. Jeder Humanitätsdusel sei hier nur Feigheit.“ (Schubert, 2021, S. 99)

Das Buch von Helga Schubert „Die Welt da drinnen“ schildert die Umsetzung dieser abstoßenden Auffassung im Nationalsozialismus. In einem Geheimerlass vom Oktober 1939 (rückdatiert auf den 1. September 1039, Beginn des 2. Weltkriegs) veranlasst Hitler auf einem Zettel die T 4 Aktion, die Vernichtung sog lebensunwerten Lebens.

Helga Schubert berichtet in anrührender und anschaulicher Weise von PatientInnen, die in ihrer eigenen Welt gefangen sind und/oder den Anforderungen der Welt der sog. Normalen und Gesunden nicht entsprechen können. In ihrer Darstellung der planmäßigen, verwaltungstechnisch perfekten Durchführung der Tötung von Menschen, untergebracht in der Schweriner Nervenklinik, fließt mit ein, wie es ihr selber bei dieser Thematik ging, sie lässt die LeserInnen teilhaben an ihren eigenen Empfindungen und an ihrer eigenen Lebensgeschichte – und das ganz und gar uneitel, eher beiläufig und gerade dadurch um so eindrücklicher. Die Autorin (Jahrgang 1940) ist erst 2020 durch den Ingeborg-Bachmann-Preis einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Helga Schubert lebt heute in der Nähe von Schwerin, arbeitete als Psychotherapeutin und Schriftstellerin in der DDR.

Konkret geht es um die Ermordung von 179 PatientInnen der Schweriner Nervenklinik im Jahr 1941. Die Akten dieser Verbrechen, sehr deutsch und sorgfältig dokumentiert, waren im Ministerium für Staatssicherheit der DDR unter Verschluss und konnten erst nach der Wende durch Überstellung ins Bundesarchiv ausgewertet werden. 179 PatientInnen sind nur ein Bruchteil der ca 100000 Erwachsenen und 5000 Kinder, die als lebensunwert ermordet wurden.

Anhand von Einzelschicksalen wird die Kaltblütigkeit, die bürokratische Perfektion der Durchführung, sichtbar. Helga Schubert vermag einfühlsam und sehr konkret einzelne von den 179 PatientInnen darzustellen und ihren Gang in den Tod in umgebauten Duschräumen zu vergegenwärtigen. Im Krankenhaus Bernburg (die PatientInnen wurden in Bussen dorthin gekarrt) wurden insgesamt 9385 Kranke und Behinderte ermordet und anschließend verbrannt, man händigte den Angehörigen Totenscheine mit gefälschten Diagnosen und einen Behälter mit der angeblichen Asche der Toten aus. In ihrer widerlichen Perfektion sind diese Taten unglaublich. Anschließend wurden von August 1941 bis März 1943 noch fünftausend Häftlinge aus den KZs dort vergiftet, praktischer Weise bestanden ja die Tötungsduschen bereits, das musste doch wohl genutzt werden.

In einer Diskussion mit Berliner GymnasiastInnen (S. 257 ff) spricht Helga Schubert mit den SchülerInnen, wie würden diese sich in einer ähnlichen Situation heute verhalten, wie sehen sie das Thema „Euthanasie“.

Das Buch von Helga Schubert ist absolut lesenswert, regt zum Nachdenken an – auch was unsere Diskussion über selbstbestimmtes Sterben angeht.

Nachtrag

Die T 4 Aktion wurde im August 1941 aufgehoben, nachdem der katholische Bischof von Galen in Münster in einer Predigt öffentlich die Euthanasie-Morde verurteilte. Die herrschende Naziclique fürchtete zu viel Unruhe in der Bevölkerung, Goebbels riet zur taktischen Mäßigung.

Diese Aufhebung bedeutete keineswegs, dass das Morden aufhörte, es folgte die heimliche „wilde Euthanasie“ (siehe https://www.gedenken-nt.de/dokumente/dunkelziffer-wilde-euthanasie/). „Die Patientinnen und Patienten werden nicht mehr mit Gas getötet, sondern durch Unterernährung, vernachlässigte Hygiene, überdosierte Schlafmittel wie Luminal oder Veronal oder Giftspritzen mit Morphium-Scopolamin, das zu Lungenentzündung und Atemstillstand führt.“

Man ließ Erwachsene und Kinder gezielt verhungern und lagerte sie wie Abfall auf uringetränkten Strohmatten im Keller, bis sie krepierten.

Was mich zutiefst mit Wut und Hilflosigkeit erfüllt ist der Umstand, dass heute 20% der deutschen Bevölkerung eine Partei wählen würde oder gewählt hat, die diese Zeit des Nationalsozialismus, eine Zeit ungeheuerlicher Verbrechen, lediglich als „Fliegenschiss“ bezeichnet und mit einem begrifflichen Vokabular wie z.B. „Umvolkung“ operiert, das aus dem faschistischen Baukasten stammt.

Das kalte Lächeln einer Alice Weidel und das höhnische Grinsen eines Bernd Höcke lassen mich erschauern.

Siehe

https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Von-Langenhorn-nach-Hadamar-Euthanasie-an-Hamburgs-Kranken,euthanasie124.

html http://www.rothenburg-unterm-hakenkreuz.de/euthanasie-ii-erfassung-der-geistig-behinderten-kinder-ihre-begutachtung-und-anschliessende-toetung/

https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/295244/vor-80-jahren-beginn-der-ns-euthanasie-programme/

https://de.wikipedia.org/wiki/Aktion_T4

Ernst Klee „ Was sie taten – Was sie wurden: Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord“ Fischer 1986

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